Unsere Rolle im Wandel

Jede Epoche erlebt ihren ganz eigenen Strukturwandel, und der bietet bekanntlich ebenso Chancen wie Risiken. Genau betrachtet, sind die Begriffe „Chance“ und „Risiko“ nur unterschiedliche Wertungen ein und derselben Sache, je nach Haltung und Sichtweise. Beispielsweise der Fachkräftemangel in der Industrie: Die gut ausgebildete Mechatronikerin kann sich ihren Arbeitsplatz aussuchen. Ihr Gegenüber im Bewerbungsgespräch, der potentielle Arbeitgeber also, sucht dringend gute Leute, er wird den Trend des Fachkräftemangels nicht gerade große Chance, eher als Pein bewerten. Es kommt jetzt auf seine Haltung an: Der Mangel an Arbeitskräften könnte, wenn er es klug anpackt, zu Innovationsprozessen führen, zu effizienteren Produktionsverfahren beispielsweise, bis hin zu ganz neuen Geschäftsmodellen. Eine Frage der Perspektive und der Haltung also.

Das Ideal sähe so aus: Ein innovationsbereiter Unternehmer stellt nicht nur hinsichtlich Ausbildung und Erfahrung, sondern auch mit Blick auf die Haltung die besten Leute ein. Dieses Unternehmen hat nun Kunden, die bereit sind, Innovationsprozesse mit dem Kauf von Produkten zu unterstützen. Hört sich einfach an, ist aber eher die Ausnahme von der Regel. Als Henry Ford noch kein Automobil für die Massen gebaut hatte, wünschten sich die Menschen durchaus bessere Kutschen und schnellere Pferde – aber bis sie sein hochinnovatives, von einem Verbrennungsmotor angetriebenes Gefährt akzeptierten, vergingen ein paar Jahre. Erst viel später nannten sie das Modell T liebevoll „Tin Lizzy“ ihre Blechliesel. Ähnlich ging es fast einhundert Jahre später dem Smart, auch an das Auto ohne Rückbank mussten wir uns erst gewöhnen.

Das macht Innovationsprozesse so mühevoll und herausfordernd: Bin ich in der Lage, die Chancen zu erkennen in dem, was mich heute drückt und plagt? Kann ich andere von meinen Lösungskonzepten überzeugen, oder – noch besser – gemeinsam mit ihnen Lösungsansätze entwickeln? Die feste Abgrenzung der Rollen „Unternehmer/in“, „Arbeitnehmer/in“, „Lieferant/in“ und „Kunde/Kundin“ sollte das erste sein, was wir hier überdenken.

Das Zeitalter des Erdöls und der Automobilität hat einhundert Jahre auf dem Buckel und geht gerade zu Ende. Drei der großen Fragen, die sich unserer Gesellschaft heute stellen, sind:

Wie organisieren wir Politik? Wie organisieren wir UNS?

Wie reden, wie leben, wie arbeiten wir miteinander, im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung? Ebenso, wie Unternehmen gerade lernen, ihren Kunden nicht mehr einfach mitteilen zu können, was das richtige für sie ist, lernen Parteien, dass Politik nur durch die Bürger entwickelt und umgesetzt werden kann. Die alten Rezepte (an denen wir hängen, weil wir sie so hart erkämpft haben) funktionieren nicht mehr. Neue Partizipationsprozesse, gesellschaftlich aktive Teilhabe und Mitbestimmung zu organisieren, erweist sich sind aber viel schwieriger zu organisieren, als erwatet: Volksentscheide reduzieren komplexe Fragestellungen am Ende auf Ja/Nein Entscheidungen. Der Brexit oder aktuell auch der abgelehnte Friedensvertrag in Kolumbien zeigen, dass dieser Weg nicht funktioniert. Die Befragung kommt an der falschen Stelle, nämlich am Ende eines von Wenigen geleiteten Prozesses, statt Bürger von Anfang an die Auseinandersetzung führen zu lassen. Der Belgier David Van Reybrouk vertritt alternativ die Idee, 1.000 Bürger per Los zu bestimmen und ihnen ein halbes Jahr Zeit zu geben, sich mit einer komplexen Fragestellung zu befassen. Dieser Konvent könnte jeden Experten und jede Politikerin, der oder die ihm wichtig erscheint, befragen. Das Verfahren wird öffentlich dokumentiert und kann von jedem jederzeit kommentiert werden. Menschen begegnen sich und schauen sich in die Augen, während sie ihre konträren Positionen austauschen und miteinander arbeiten. Van Reybrouks Vorschlag geht sogar soweit, in seiner belgischen Heimat eine zweite Kammer neben dem Parlament aus zufällig Auserwählten arbeiten zu lassen. Bei uns wäre das der Bundesrat. Der repräsentiert dann eben nicht mehr die Bundesländer, sondern die Bürger.

Wie gestalten wir den demografischen Wandel und die damit verbundenen, notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen sowie wirtschaftlichen Herausforderungen?

Die Menschen in Deutschland leben heute länger und gesünder als vorangegangene Generationen. Damit hat sich auch unser Bild vom Älterwerden positiv geändert. Die Menschen sind heute häufig bis ins hohe Alter aktiv. Alter, im klassischen Verständnis, gibt es dann erst sehr viel später. Zwischen der Lebensmitte und der letzten, von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit geprägten Lebensphase, ist ein neuer Lebensabschnitt entstanden. Sofern soziale, finanzielle und gesundheitliche Faktoren stimmen, kann gerade diese Lebensphase aktiv und erfüllt gestaltet werden. Aber für immer weniger Menschen ist das möglich – wie kann das sein?

Bereits heute fehlen in den Pflegeberufen Fachkräfte. Amtliche Angaben zur Zahl aller nicht besetzten Stellen in den Pflegeberufen liegen zwar nicht vor, Indizien für bestehende Engpässe können aber aus der Arbeitsmarktberichterstattung der Bundesagentur für Arbeit entnommen werden. Stellenangebote für examinierte Altenpflegefachkräfte und -spezialisten sind demnach im Bundesdurchschnitt 138 Tage vakant – das ist 62 Prozent länger als im Durchschnitt aller Berufe.

Als das Rentensystem in Deutschland vor 60 Jahren geschaffen wurde, kamen auf jeden Rentner sechs Arbeitende – heute sind es noch zwei. Gleichzeitig steigt die Wertschöpfung aber durch technischen Fortschritt kontinuierlich an. Die damit entstehenden Ressourcen für das Alter aufzusparen, und zwar nicht nur individuell, sondern vor allem als Gemeinschaft, haben wir noch nicht gelernt. Mit den demographischen Veränderungen richten sich also drängende Fragen an jeden Einzelnen ebenso wie an die Gesellschaft: Wie müssen, wie wollen wir leben, um die Jahrzehnte nach der Arbeitszeit aktiv, sinnvoll und selbstbestimmt gestalten zu können?

In welcher Umwelt wollen wir leben. Was sind wir bereit, dafür zu tun? Worauf sind wir bereit, dafür zu verzichten?

Der Mensch beeinflusst „seine“ Umwelt wie nie zuvor eine Spezies in der Geschichte unseres Planeten. Die Erkenntnis, dass diese Einflussnahme mittelfristig nicht ohne Folgen bleiben wird, ist inzwischen auf der politischen Agenda angekommen.

Kunden, häufig nicht ganz zu Unrecht als „Verbraucher“ bezeichnet, sind unter bestimmten Bedingungen bereit, mehr Geld für soziale gerechte oder umweltverträglichere Produkte zu bezahlen. Was „fair“, „öko“ oder „regional“ für jeden Einzelnen bedeutet, ist höchst unterschiedlich. Die Zeiten, in denen der Kunde ein Produkt ausschließlich nach seinem Verhältnis zwischen Qualität und Preis beurteilt hat, sind endgültig vorüber. Langlebigkeit, die Herkunft einzelner Teile, ja sogar die Firmenphilosophie rücken plötzlich in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Kundenansprüche an Transparenz und Mitsprache, an schnelle Informationsmöglichkeiten rund um die Uhr steigen und treiben Unternehmen immer weiter an. Hier echten Dialog zu organisieren als Grundlage für eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Kunde in der Entwicklung neuer Produktangebote, ist die Herausforderung, die sich aktuell fast allen Organisationen stellt.

Für Unternehmen heißt das, sich zu öffnen und viel von sich zu geben, auch viel aufzugeben, Risiken einzugehen. Das neue Spiel zwischen Verkäufer und Käufer stellt für viele Etablierte, die lange erfolgreich waren, einen radikalen Wandel dar. Da reicht es nicht, dass der Vorstandsvorsitzende sich ein Paar Turnschuhe anzieht, den Dutzton befiehlt oder Startups zu Audienzen vorlädt. Das ist aber noch die Regel: Selbst, wenn hochinnovative Gründungsteams auf Partnersuche gehen, ist Augenhöhe oftmals Fehlanzeige.

Unsere Rolle als Kreative, als Gründer, als Unternehmerin heißt, hier Verantwortung zu übernehmen, mutig zu sein und nicht klein beizugeben. Geschäftsmodelle sind immer Lösungen für die Nöte unserer Kunden – Wege, die niemand für sich allein gehen kann. In unserer vernetzten und globalisierten Welt wirken sich Antworten auf die großen Fragen von Gerechtigkeit, Lebensqualität und Umwelt nicht national, sondern immer global aus. Und ebenso wie bei der Verbreitung des Internets in den vergangenen 25 Jahren, das als technische Innovation begann, in deren Rahmen dann Geschäftsmodelle entstanden, die nun unser Leben nachhaltig verändern, bedarf die Beschäftigung mit den oben aufgeführten Fragen der Wissenschaftler und Techniker, der Geschäftsleute und Gründer, der Politiker und Bürger, um funktionierende Antworten zu finden, auszuprobieren, zu verwerfen und zu verbessern. Und ebenso wie bei den großen Herausforderungen der Vergangenheit – der Professionalisierung von Landwirtschaft, der Industrialisierung oder der Digitalisierung – ist auch dieser Weg voller Risiken und Chancen für jeden von uns.

Oliver Schmidt

Oliver Schmidt arbeitet als Unternehmensberater (Sandwichpicker GmbH, Hultgren Nachhaltigkeitsberatung), Coach internationaler Startups und als Dozent (FU Berlin, HU Berlin, HNE Eberswalde, Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz (Ukraine), Social Impact Lab). Sein besonderes Augenmerk gilt dem Spannungsfeld aus Nachhaltigkeitsmanagement, Unternehmensführung und strategischem Marketing. Als Mitglied im Netzwerk Unternehmertum der Freien Universität Berlin unterstützt er Studentinnen und Studenten des Deutschlandstipendiums als Förderer und Mentor. Im Netzwerk zentral- und osteuropäischer Universitäten Tempus Eanet engagiert er sich als Leadoach und Dozent. Am liebsten erklärt er die Welt in Vorträgen und Workshops.

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